Ich habe zugehört – bei Radiosendungen und Podcasts. Und mir notiert, welche bildungssprachlichen Begriffe Journalisten und Moderatorinnen so benutzen. Kann man davon ausgehen, dass alle Zuhörenden solche gelehrten Ausdrücke verstehen? Wohl kaum.
Für mich ein guter Anlass, mir diese Wörter hier im Blog einmal vorzunehmen, ergänzt durch ein paar weitere Fremdwörter. Das Kriterium: Die Begriffe sollten im mittleren Schwierigkeitsfeld angesiedelt sein. Wir benutzen sie nicht täglich, vielleicht gar nicht, aber sie sind auch nicht völlig abgefahren oder fachsprachlich. Es lohnt sich also, sie einmal näher anzuschauen.
Wie schon bei meinen Wendungen für Wissensdurstige sollten Sie vorsichtig damit sein, die Ausdrücke einfach so zu verwenden. Schließlich wollen Sie auch verstanden werden. Dennoch ist es wertvoll, die Bedeutung zumindest im passiven Wortschatz abzuspeichern.
Los geht es mit dem Adjektiv „ostentativ“. Hätten Sie gewusst, was es bedeutet?
1. ostentativ
Wenn eine Person etwas ostentativ tut, will sie, dass die anderen es mitbekommen. Ihr Verhalten hat etwas Herausforderndes. Meist können Sie stattdessen auch demonstrativ benutzen.
Beispiel: Sie drehte sich ostentativ von ihm weg.
2. prosaisch
Prosaisch bedeutet trocken und nüchtern. Die Wortbedeutung überrascht etwas, wenn man an Prosa denkt – die entspringt schließlich der Fantasie, weit weg von einem Sachtext. Ich vermute, frühere Literaten sahen das anders. Ihnen erschien die Prosa-Gattung im Vergleich zur Poesie ausnehmend nüchtern.
Beispiel: Sie wollen also allein aus steuerlichen Gründen heiraten? Eine sehr prosaische Einstellung.
3. neuralgisch
Mit neuralgisch ist etwas Kritisches, Schmerzhaftes gemeint. Der Ausdruck stammt aus der Medizin und zielt dort auf Schmerzen im Bereich sensibler Nerven. Ähnlich spricht man auch von einem „wunden Punkt“.
Beispiel: Du hältst die Aktion der Firma für Greenwashing? Damit hast du vermutlich einen neuralgischen Punkt getroffen.
4. disruptiv
Wenn etwas disruptiv ist, wirft es etwas Bestehendes über den Haufen. Wichtig ist, dass sich die zerstörerische Kraft auf einen größeren Zusammenhang bezieht. Wenn Sie mit der Tradition des Himmelfahrt-Trips im Freundeskreis brechen, handeln Sie noch nicht disruptiv.
Beispiel: Die Coronakrise hatte einen disruptiven Effekt auf unsere Gesellschaft.
5. extrapolieren
Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Beobachtung. Unter der Annahme, dass Ihre Beobachtung weiter so andauern wird, schließen Sie nun auf ein (noch nicht sichtbares) Ergebnis. Diese Operation nennt man extrapolieren. Das Wort kommt aus der Mathematik. Dort bedeutet es, sich einem Ergebnis rechnerisch anzunähern.
Beispiel: Ich gebe zu, der Monat lief schlecht. Daraus jedoch unsere baldige Insolvenz zu extrapolieren, halte ich für übertrieben.
6. Axiom
Ein Axiom ist eine Wahrheit, die allgemein als gültig und richtig betrachtet wird, auch wenn sie sich nicht beweisen lässt.
Beispiel: Wer freundlich ist, kommt weiter – doch gilt dieses Axiom auch in unserer Ellbogengesellschaft?
7. Hybris
Als Hybris bezeichnet man ein überzogenes, realitätsfernes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Wenn jemand Hybris zeigt, handelt er vermessen und überheblich.
Beispiel: Er geht doch tatsächlich auf die Bühne und reißt das Mikro an sich. Was für eine Hybris!
8. Apologet, Apologetin
Ein Apologet ist eine Person, die nachdrücklich für eine Überzeugung oder Lehre eintritt. Der Begriff stammt aus der frühchristlichen Zeit, als griechisch schreibende Autoren sich um eine Verteidigung des Christentums bemühten.
Beispiel: Sie waren Apologeten des Nichtstuns.
9. Epigone, Epigonin
Ein Epigone ist jemand, der nur nachahmt, anstatt eigene Ideen zu entwickeln. Ursprünglich waren die Epigonen sogar sehr siegreich. Als Nachfahren der „Sieben gegen Theben“ gelang es ihnen, die Stadt Theben zu zerstören – so die griechische Sage. Die Wortbedeutung entwickelte sich dann weiter über „Nachfolger“ zu „Nachahmer“.
Beispiel: Warum folgst du ihm? Er kopiert mich doch nur, dieser Epigone.
10. Moment
„Moment? Warum soll das ein schwieriger Begriff sein?“, denken Sie jetzt vielleicht. Tjaaa, ich Fuchs: Gemeint ist nicht „der Moment“ als Zeitpunkt. Sondern „das Moment“. Im Neutrum bezeichnet das Wort einen ausschlaggebenden Umstand. Sie müssen also aufpassen, in dieser Bedeutung nicht den maskulinen Artikel zu verwenden.
Beispiel: Beide engagieren sich im Tierschutz – das war das Moment, das ihre Freundschaft besiegelt hat.
Fazit: Mehr Liebe für den Wortschatz
Und, wie gut kannten Sie die Bedeutung der zehn bildungssprachlichen Begriffe? Manchmal schlägt man sich ja auch mit etwas Halbwissen durch, da nehme ich mich nicht aus. Ich werde weiter sammeln, um vielleicht eine zweite Folge zu füllen.
Wenn Ihnen noch weitere Wörter auf diesem Schwierigkeitslevel einfallen – weder zu fachsprachlich noch zu alltäglich –, posten Sie sie gerne in den Kommentarbereich oder schreiben Sie mir eine E-Mail.
Lesen Sie auch:
Von der Büchse der Pandora bis zum salomonischen Urteil: Wendungen für Wissensdurstige, Teil 3
Besser texten: Warum Sie mit Adjektiven sparsam sein sollten
Besser texten: Worauf Sie bei Verneinungen achten sollten
Birigt meint
Ein toller Artikel vielen Dank! Ich hätte nicht alle Begriffe genau definieren können!
Zu „extrapolieren“ gibt es noch dieses wunderbare Zitat: „Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt: Diejenigen, die aus unvollständigen Daten extrapolieren können“ 😅
Viele Grüße!
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Birgit,
hehe, das Zitat ist großartig.
Danke für Ihren Kommentar!
Viele Grüße
Annika Lamer
Uli Becher meint
Liebe Annika,
es freut mich, dass vier der zehn Wörter aus dem naturwissenschaftlich-mathematischen Umfeld stammen (4,5,6,10).
Ich habe mich bemüht, noch ein fünftes zu finden, doch auch wenn es in den Naturwissenschaften Apologeten, Epigonen und Hybris gibt, so sind das doch im engeren Sinne keine fachsprachlichen Begriffe.
Das Moment kommt vom englischen momentum – Impuls, physikalisch das Produkt von Masse und Geschwindigkeit.
Viele Grüße
Uli
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Uli,
danke für deine naturwissenschaftliche Perspektive. Der Kommentator nach dir möchte auch gerne das physikalische Moment ergänzt haben, ich werde mich fügen. 😉
Viele Grüße
Annika
Hans meint
„Das Moment“ ist nicht nur der ausschlaggebende Umstand, sondern im Physikalischen – daher kommt eigentlich diese Bedeutung! – eine Kraftwirkung: Allgemein bekannt sind die Begriffe Drehmoment und Trägheitsmoment.
Liebe Grüße und danke für das schöne Kompendium – unbedingt ergänzen!
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Hans,
danke für die Ergänzung! Da sich der Beitrag um Alltagssprache dreht, hatte ich mich dagegen entschieden, die physikalische Bedeutung aufzunehmen. Aber kurz ansprechen kann ich es, um die Herkunft zu erklären – da gebe ich Ihnen recht. Ich werde einen Satz ergänzen.
Herzliche Grüße
Annika Lamer
Andreas Hensel meint
Liebe Annika Lamer,
vielen Dank für Deine lehrreichen und unterhaltsamen Postings, immer wieder ein Genuss.
„Pro Domo“ ist ein Begriff für den ich im Deutschen keine angenehme Entsprechung finde. Die Erklärung im Lexikon (fürs eigene Haus), empfinde ich als sperrig.
Was meinst Du dazu?
Herzliche Grüße,
Andreas
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Andreas,
vielen Dank für dein Feedback und den Vorschlag! Ich werde ihn am besten auf die Liste für meine Beitragsreihe „Wendungen für Wissensdurstige“ setzen. Dort erkläre ich nämlich Begriffe, die auf eine Geschichte zurückgehen – was hier ja der Fall ist. 🙂
Viele Grüße
Annika