Sprache lebt, sie verändert sich ständig. Neue Wortschöpfungen und Anglizismen kommen dazu, Fachbegriffe gehen in die Alltagssprache über, grammatische Strukturen ändern sich. Selten aber gab es etwas, das in so kurzer Zeit einen so starken Einfluss auf die Sprache hatte wie das Corona-Virus. Grund genug, mal einen näheren Blick zu werfen auf all die Ausdrücke, die unseren neuen Alltag bestimmen.
Corona-Alltag – fast vorbei oder mitten drin?
Um die Übermacht der Corona-Wörter nachzuvollziehen, braucht man sich nur die Schlagzeilen und News-Beiträge der vergangenen Monate anzuschauen. Es gab ja quasi kein anderes Thema mehr. Und auch private Gespräche waren lange nicht möglich, ohne Corona-Themen zu berühren. Klar, schließlich haben sie jeden Lebensbereich beeinflusst – und tun es noch.
Und tun es noch? Wir haben den 26. Mai und ich bemerke eine gewisse Corona-Müdigkeit. Viele Leute haben genug davon, ständig etwas über das Virus zu lesen und darüber zu reden. Dennoch: So schnell wird das Virus nicht verschwinden, weder aus unserem Alltag noch aus unserer Sprache.
Neue Ausdrücke
Da wären zum einen die wissenschaftlichen Ausdrücke, mit denen wir auf einmal wie selbstverständlich operieren: Reproduktionszahl, Verdopplungszeit, exponentielles Wachstum, Wachstumsfaktor, Aerosole und viele andere mehr.
Mit Ausdrücken wie Social und Physical Distancing, Lockdown und Shutdown haben wir neue Anglizismen in unseren Sprachgebrauch aufgenommen.
Virologen sind die neuen Influencer und stehen auf der Berufswunsch-Skala schon ziemlich weit oben.
Wir haben uns an die krudesten Begriffsschöpfungen gewöhnt:
- Die Infektionswelle ist über uns hereingebrochen, kommt bald die zweite?
- Wenn Durchseuchung das Ziel ist, wird die Verbreitung einer Seuche zu etwas Positivem.
- Die angestrebte Herdenimmunität vergleicht uns Menschen mit Tieren.
- Wir stecken uns nicht einfach nur an, sondern es geschieht etwas – das ist das Infektionsgeschehen.
- Megaspreader und Superspreader klingen wie Comic-Schurken mit Superkräften.
- À propos Superhelden, wer hätte sich vorher eine Alltagsmaske vorstellen können?
- Daten kann man spenden wie sein Blut, es geht um Datenspenden.
- Mit dem Mindestabstand bekommt Abstand plötzlich ein Mindestmaß.
- Und auch die Kontaktbeschränkungen klingen schon erschreckend normal in unseren Ohren.
Die Rechtschreibkorrektur kennt viele dieser Wörter noch nicht. Autokorrektur „Durchseuchung“ zu „Durchsuchung“, „Herdenimmunität“ zu „Herrenimmunität“ – zugegebenermaßen eine interessante Alternative.
Für den Mund-Nasen-Schutz, neuerdings Alltagsmaske, kursieren zudem unzählige dialektale Ausdrücke – vom Snuutenpulli über das Maultäschle bis zum Fratzenschlüpper. Ehrlich gesagt bezweifle ich jedoch, ob die Leute diese Wortschöpfungen wirklich in ihrer Alltagssprache verwenden. Sie sind wohl eher ein Gag.
Wortzusammensetzungen mit „Corona“
Die zweite Gruppe sind die zusammengesetzten Substantive mit „Corona“. Davon gibt es schier unendlich viele:
- Corona-Krise
- Corona-Pandemie
- Corona-Ausbruch
- Corona-Regeln
- Corona-Gesetze
- Corona-Kampf
- Corona-Einschränkungen
- Corona-Maßnahmen
- Corona-Lockerungen
- Corona-Test
- Corona-Fälle
- Corona-Infizierte
- Corona-Tote
- Corona-News
- Corona-Update
Wie sich das zweite Wortbestandteil zu „Corona“ verhält, wird dem Lebenswissen des Lesers überlassen. Streng genommen müssten es ja Anti-Corona-Maßnahmen und Anti-Corona-Kampf sein. Wie viel Kontext vorausgesetzt wird, sieht man noch deutlicher bei diesen Wörtern:
- Wir alle leben jetzt in Corona-Zeiten. Als wäre das eine komplett neue Zeitrechnung – was es ja auch ist.
- Corona-Blues und Corona-Trauma zeigen sehr eindringlich, dass man das Virus nicht selbst haben muss, um daran zu erkranken.
- Die Corona-Pläne der Bundesländer geben den Fahrplan für die Lockerungen vor. Sie sind Teil ihrer Corona-Politik.
- Was eine Corona-Frisur ist, weiß man nur, wenn man den Hintergrund kennt – dass nämlich die Friseure ihre Scheren lange im Schrank lassen mussten.
- Geschlossene Fitnessstudios und Homeoffice führen zu Corona-Kilos.
- Die Corona-Hilfen helfen nicht dem Virus, sondern Leuten, die wirtschaftlich unter den Maßnahmen leiden.
- Und die Corona-Eltern, sind das Infizierte? Nein, der Ausdruck meint Eltern, die besonders unter dem Corona-Alltag leiden.
- Interessant auch die Corona-Helden. Gemeint sind gemeinhin Menschen in „systemrelevanten Berufen“.
- Was könnte ein Corona-Konzert sein – ein Charity-Event gegen die Folgen von Corona? Meist geht es einfach um ein Online-Konzert, das unter Corona-Bedingungen entstanden ist.
- Auf einer Corona-Party wollen sich die Gäste nicht etwa absichtlich anstecken, sie verstoßen nur gegen die Kontaktbeschränkungen.
- Die Corona-Müdigkeit bezeichnet nicht mehr nur ein Symptom des Virus, sondern einen zunehmenden Unwillen in der Bevölkerung, sich mit dem Virus und seinen Gefahren auseinanderzusetzen.
- Die Corona-Demo ist weder eine Demonstration für oder gegen Corona, sondern gegen die Maßnahmen.
- Und wer tritt dort auf? Richtig, die coronamüden Corona-Skeptiker.
All diese Wörter beweisen, dass das Virus nicht nur eine infektiologische Dimension hat, sondern unseren Alltag ganz weitreichend berührt – unseren Corona-Alltag.
Noch mehr Sprach-Beobachtungen
Interessant finde ich auch die Frage, ob der Bindestrich mehr und mehr verschwinden wird: Coronakrise, Coronaregeln, coronabedingt. Das zeigt nämlich an, dass „Corona“ nicht mehr so sehr als Fremdkörper in unserer Sprache wahrgenommen wird, sondern als normales Substantiv, das man frei mit anderen kombinieren kann.
Als Wortschöpfung ist mir zudem Covidioten begegnet – ein Kofferwort aus Covid-19 und Idioten. Ansonsten wird mit Covid jedoch nicht so viel gebildet, Corona ist doch eingängiger.
Schließlich und endlich wären da noch die neuen Phrasen:
- Bleib gesund/Bleiben Sie gesund.
- Alles Gute in diesen verrückten/seltsamen/beklemmenden Zeiten.
- Sie sind uns mit Abstand am sympathischsten/die liebsten Kunden.
Über „Bleiben Sie gesund“ regen sich viele Menschen auf, hat mein letzter Beitrag über Imperative gezeigt. Sie empfinden den Spruch wahlweise als anmaßend-gebieterisch oder als unsensibel – schließlich weiß man nicht immer, ob sein Gegenüber überhaupt gesund ist.
Fazit: Unsere Lebenswirklichkeit prägt unsere Sprache
Welche Ausdrücke werden wir auch in vielen Jahren später noch verwenden (Corona-Krise), welche werden in Vergessenheit geraten (Corona-Frisur)? Werden wir in ein paar Jahren noch wissen, was eine Reproduktionszahl ist? Was werden die Corona-Wörter dann sein – aus der Mode gekommene Modewörter?
Aber das wäre zynisch. Corona ist mehr als eine Mode, es ist unsere Lebenswirklichkeit. So oder so, 2020 wird als das Jahr in Erinnerung bleiben, an dem unsere Sprache von einem Virus geprägt wurde. Hoffentlich wird 2021 anders – wenigstens ein bisschen.
Welche sprachlichen Besonderheiten seit der Krise sind Ihnen aufgefallen? Posten Sie Ihre Beobachtungen gerne im Kommentarfeld.
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Frank Hoffmann meint
Moin,
das ist schon eine recht umfassende Sammlung, ich kann da nichts mehr hinzufügen.
Aber ich nutze die Kommentarfunktion, weil ich über die eher französische Form des a propos gestolpert bin – müsste das „A“ dann nicht mit Apostroph versehen werden?
Viele Grüße!
Frank
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Frank,
sehr aufmerksam. 🙂 Bei der Großschreibung kann man den Akzent weglassen. Das ist also Geschmackssache. Ich habe ihn aber ergänzt.
Viele Grüße
Annika
Martina Schmid meint
Liebe Frau Lamer
Eine sehr feine Auflistung haben Sie da zusammengestellt, ganz klasse! Neue Gegebenheiten erfordern neue Begriffe und schnell werden sie in unserer digitalen Welt zum Allgemeingut. Wir bei eurolanguage haben uns mal in anderen Ländern umgeschaut und in unserem Blog beschrieben wie diese sprachlich mit ‚Corona‘ umgehen – und doch einige Unterschiede ausgemacht. https://www.eurolanguage-translations.com/wie-sprechen-wir-ueber-corona/
Danke wieder einmal für diesen tollen Beitrag. Und wir könnten jetzt schon Wetten annehmen, was wohl das Wort des Jahres 2020 sein wird, oder?
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Frau Schmid,
oh, das ist super, vielen Dank für diese sehr interessante Ergänzung! Über das Kriegsvokabular von Macron hatte ich auch schon gestaunt.
Viele liebe Grüße
Annika Lamer
Rainer Kolbe meint
Guten Abend,
vielen Dank auch für diesen Beitrag. Bei uns ist der „Schnutenpulli“ tatsächlich fester Bestandteil der Familiensprache geworden … mehr als ein Gag.
Herzliche Grüße!
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Herr Kolbe,
danke für Ihren Kommentar. Interessant, dass sich der Begriff bei Ihnen tatsächlich eingebürgert hat. 🙂
Viele Grüße
Annika Lamer
Ulrike Preus meint
Das ist toll zusamengetragen. Ich lese gerade einen Artikel der Industrie- und Handelskammer. Dort ist die Rede von der 8. Corona-Bekämpfungsverordnung.
Auch nicht schlecht, oder?.
Liebe Grüße
aus Limburg
Ulrike Preus
Erik meint
Liebe Frau Lamer,
schon wieder ein sehr interessanter Text! Ich genieße Ihre Beiträge immer.
Nur scheint es mir „Fitnessstudios“ zu sein, statt „Fitnesstudios“? 🙂
Viele Grüße,
Erik
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Erik,
ein Typo. 😉 Danke für Ihr aufmerksames Auge!
Viele Grüße
Annika
Marta Pagans meint
Liebe Annika,
das ist eine beeindruckende Sammlung. Hut ab!
Von mir nur eine minimale Ergänzung − das „Corona-Kino“, d.h., das Filmschauen auf vier Rädern in bester amerikanischer Autokinotradition
Dir alles Gute in diesen bizarren Zeiten. ; )
Marta