Höher, schneller, weiter. Nur wer laut ist und permanent auf sich aufmerksam macht, kann am Markt bestehen. Ist das wirklich so? Meine Kollegin Sonja Mahr sagt nein. Als Schreibmentorin und Texterin ermutigt sie introvertierte Unternehmer/innen, ihr Business auf leise Art und Weise zu führen.
Wenn ich Sonjas Positionen lese, kann ich nur nicken. Denn auch ich gehe den Weg, lieber mit gutem Content zu überzeugen statt mit Lautstärke. Sonja schafft es, diese besondere Art des Sichtbar-Werdens auf sehr klarsichtige Weise herauszuschälen. Damit hat sie sich auf eine ganz wunderbare Nische spezialisiert: Leises Marketing. Im Interview erklärt sie, wie das geht.
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Hallo Sonja. Warum, meinst du, ist ausgerechnet der Typ Rampensau das gesellschaftlich verbreitete Bild eines erfolgreichen Menschen?
Hallo Annika! Die weitverbreitete Annahme, dass nur sehr extravertierte Menschen erfolgreich sein können, ist eine über Jahrzehnte gewachsene und herrscht in unserer heutigen Zeit überwiegend in westlichen Kulturkreisen vor. In asiatischen Kulturkreisen beispielsweise ist es genau umgekehrt. Dort gilt vornehme Zurückhaltung, bedachtes und eher leises Agieren als erstrebenswert und vorbildlich. So war es übrigens auch bei uns in Mitteleuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Schlägt man in damaliger Literatur zum Thema Persönlichkeitsentwicklung nach, galten dort Tugenden wie Fleiß, Integrität, Pflichtbewusstsein und Moral als gesellschaftliches Ideal. Um 1920 kamen dann erste Ratgeber heraus, die mehr und mehr dazu rieten, an der eigenen Ausdrucksstärke zu arbeiten und Dominanz sowie Faszinationsfähigkeit zu entwickeln. Diverse Persönlichkeitstests wurden entwickelt und zahlreiche Ratgeber publiziert, die dabei helfen sollten, die eigene selbstbewusste Ausstrahlung zu stärken. Im gleichen Zug bekam das Persönlichkeitsmerkmal der Introversion einen negativen Stempel und wurde zur vollkommen unerwünschten, fehlerhaften „Eigenheit“ klassifiziert.
Inzwischen hat sich diese starke Aufspaltung in „extravertiert = erwünscht“ und „introvertiert = unerwünscht“ etwas reduziert. Dennoch gelten auch heute noch, gerade im Arbeitsleben, extravertierte Stärken als besonders wichtig und die Stärken introvertierter Menschen werden leicht übersehen.
Stellen wir also fest, der Markt ist laut. Was passiert, wenn ein introvertierter Mensch sich dem anzupassen versucht?
Für introvertierte Menschen bedeutet das, dass sie immer in einem Zwiespalt stecken und sich oftmals gar als „falsch“ empfinden. Dabei geraten sie in eine Art von außen eingeforderte Imitatorenrolle, in der sie die Stärken der anderen nachahmen müssen, statt ihre eigenen ausleben zu dürfen. Sie versuchen permanent mitzuhalten und kommen letztlich in eine sehr belastende und stressige Situation. Dabei wäre es sowohl für die Gesellschaft als auch für ein Unternehmen und den einzelnen Menschen so viel gewinnbringender, wenn diese leisen Menschen ihre eigenen Stärken einbringen dürften.
Du sprichst von leisen und lauten Stärken. Kannst du uns einige Beispiele dafür geben?
Ja, sehr gern. Laute Stärken sind die Eigenschaften, die vor allem extravertierte Menschen häufig haben. Zum Beispiel Redegewandtheit, Spontaneität und Aufgeschlossenheit. Introvertierte Menschen glänzen häufig durch Stärken wie Empathie, Zuverlässigkeit und Kreativität. Hierbei gibt es aber kein Schwarz und Weiß, sondern jeder Mensch bewegt sich ganz individuell auf einer Skala zwischen Introversion und Extraversion. Es gibt also nicht per se „den Extravertierten“ oder „die Introvertierte“, sondern unterschiedlich starke Ausprägungen beider Persönlichkeitsmerkmale.
Statt sich zu verbiegen, rätst du Introvertierten, einfach ihren leisen Weg zu gehen. Wie funktioniert das? Wie können sie sichtbar werden, obwohl die anderen permanent „Hier!“ schreien?
Es kommt darauf an, wie die Lebensrealität des Einzelnen aussieht. Im Unternehmenskontext ist es in erster Linie an den Führungskräften, die Stärken aller Mitarbeitenden zu sehen, um letztlich auch die bestmögliche Zusammenarbeit in Teams zu fördern.
Wenn es darum geht, als Freiberufler*in oder selbstständige*r Unternehmer*in sichtbar zu werden, empfehle ich, das Selbstmarketing an die eigene Persönlichkeit anzupassen. Wenn jemand in die Selbstständigkeit startet, hat er oft das Gefühl, sofort aggressiv verkaufen zu müssen. Doch nicht jeder möchte so lautstark und drängend für sich selbst werben. Das ist auch gar nicht nötig.
Eine leise Alternative dazu ist z. B. Content Marketing. Dabei produzieren Selbstständige online Inhalte (Content), zum Beispiel Blogartikel, zu ihren Fachthemen. Statt diese nun wider ihrer Natur möglichst lautstark überall anzupreisen, funktioniert Content Marketing genau umgekehrt. Es schreit nicht „Kauf mich!“, wie es die klassische Werbung oft tut, sondern wirkt stattdessen anziehend. Die Texte sorgen durch relevante Inhalte dafür, dass die potenziellen Kund*innen von selbst zu einem kommen, indem sie zum Beispiel über eine Suchmaschine auf die Website gelangen. Holt man sie dort mithilfe empathischer Formulierungen ab und geht auf ihre tatsächlichen Bedürfnisse, Fragen und Probleme ein, macht man sie ganz ohne Druck zu Kund*innen. Sie kaufen, weil sie den Wert des offerierten Angebotes erkennen und nicht, weil sie mit Kaufaufforderungen dauerbeschallt werden. Wer Content Marketing erfolgreich einsetzt, kann also getrost auf die laute Werbetrommel verzichten und gewinnt trotzdem Kund*innen.
Dieses Prinzip des leisen Marketings kommt übrigens nicht nur introvertierten Menschen zugute, sondern letztlich auch den Kund*innen, die statt mit Werbung überschüttet zu werden, ganz frei und selbstbestimmt nach Angeboten greifen können, die ihnen gut und hilfreich erscheinen.
Erzähl vielleicht kurz deine Geschichte. Wie bist du darauf gekommen, dich auf Marketing in leise zu spezialisieren?
Es ging mir beim Start in meine Selbstständigkeit so, wie ich es eingangs beschrieben habe. Ich hatte das Gefühl, überall präsent sein zu müssen, weil ich an jeder Ecke nur Ratschläge wie die folgenden hörte:
„Fang an, in mindestens 10 Netzwerken aktiv zu sein.“
„Mache täglich Live-Videos auf Facebook, um sichtbar zu werden!“
„Sei auffällig. Egal wie! Normalos scheitern im Marketing sowieso.“
Aber das passte gar nicht zu mir und ich fühlte mich schlichtweg erschlagen von diesen ganzen Dingen, die ich müssen sollte. Ich empfand diese Tipps als pushende Business-Anfeuerung und suchte eine Alternative dazu, weil ich so wohl nicht lange durchgehalten und meine Selbstständigkeit bald wieder aufgegeben hätte. Diese Alternative habe ich im leisen Marketing gefunden. Ich produzierte kontinuierlich hilfreiche Artikel zu meinen Themen, sprach meine Leser*innen auf meiner Website auf emotionaler Ebene an, teilte meine Inhalte in Social-Media und wurde dadurch Stück für Stück sichtbarer. So kamen mit der Zeit immer mehr Anfragen, weil Menschen meine Artikel online gefunden hatten und meine Unterstützung wollten. Heute gewinne ich meine Kund*innen ausschließlich über meine Website und Empfehlungen. Das leise Marketing gab mir unglaublich viel Freiheit und die Bestätigung, dass es völlig in Ordnung ist, mein Business auf eher leise Art und Weise zu führen.
Hast du zum Schluss noch einen besonderen Tipp, wie introvertierte Menschen gesellschaftliche Erwartungen an sich abperlen lassen können? Gerade dieser typische Satz: „Hab dich mal nicht so, du musst schon aus dir rausgehen.“ Was antwortet man da?
Zunächst einmal: Niemand soll sich einreden lassen, dass etwas an seinem Verhalten nicht normal ist. Diese Welt braucht leise Stärken, gerade in dieser lauten und immer schneller werdenden Zeit.
Wenn eine Aufforderung wie die von dir genannte kommt, wäge ich zunächst ab. Geht es gerade nur darum, dass jeder in einer Gruppe etwas zu einem Thema gesagt haben soll? Dann kontere ich mit einem einfachen „Aus meiner Sicht wurden alle wichtigen Punkte bereits genannt. Konzentrieren wir uns jetzt auf die Umsetzung.“
Grundsätzlich halte ich nichts von diesen vermeintlichen Pflichten und Dingen, die wir angeblich alle tun müssen und zitiere in solchen Situationen gerne auch Astrid Lindgren, die sagte: „Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen.“
Vielen Dank, liebe Sonja, für das schöne Interview.
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Was denken Sie zum Thema „leise Stärken“? Sonja und ich freuen uns über Ihren Kommentar.
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netztaucher meint
hallo,
das spricht mir aus dem herzen.
ich versuche mich seit einigen wochen beruflich an instagram.
wenn ich so die ersten erfahrungen bewerte, ist das sehr gemischt.
mit welchem sprachgebrauch und welcher attitüde dort, vor allem
in videos, kommuniziert wird lässt mich verzweifeln.
erlernte und geübte praktiken (1) wie kommentar, nachfrage und
diskussion fun ktionieren nicht. kaum interaktion. stattdessen
gebrüll, rauschen und grafische einheitssosse an gepose.
ich bin gespannt, ob dieses leise dort überhaupt funktioniert.
es liegt mir nämlich auch mehr als lautstärke.
bis dann, marco.
(1) mach das mit dem internet jetzt mehr als 20 jahre beruflich …
Sonja Mahr meint
Hallo Marco,
vielen Dank für dein Feedback. Schön, dass dir das Interview gefällt.
Was Instagram angeht, kann ich Positives berichten, denn es gibt dort sehr schöne eher leise Accounts. Vielleicht findest du über entsprechende Hashtags einige, die dir zusagen. Ich zumindest folge einigen Accounts, die sich mit Introversion, der Selbstständigkeit als leiser Mensch oder auch Branding für leise Unternehmer*innen beschäftigen und empfinde diese als sehr wohltuend und gar nicht aufdringlich.
Viel Erfolg bei deinem Insta-Start! 🙂
Liebe Grüße
Sonja
Juliane Leser meint
Vielen Dank für dieses schöne Interview.
Die leise Art des Marketings lebe ich auch schon seit neun Jahren. In meinem eigenen Business und für meine Kunden, deren Unternehmen ich hervorheben darf. Mir war immer klar, dass ich keine manipulative Marktschreier-Kampagnen begleiten möchte. Ich finde mich hier also allumfassend wieder. ?
An dieser Stelle möchte ich generell mal Danke sagen für die tollen Newsletter Themen. Auch die Rechtschreibtipps benennen ganz oft Dinge, über die ich manchnal rätsel. Weiter so. ?
Sonja Mahr meint
Danke, Juliane! Toll, dass das seit neun Jahren so gut für dich funktioniert!
Liebe Grüße
Sonja
Christian B. Rahe meint
Leises Marketing – ein für mich neuer und sehr treffender Begriff! Dafür breche ich schon seit Jahren im BewerbungsCoaching eine Lanze und ermutige Bewerber, zu ihrer wahren Größe zu stehen.
Was mir gerade durch Euer Interview bewusst wurde: Auch in Bewerbungen könnte man durchaus von Content-Marketing sprechen, wenn Bewerber etwas aus ihrem Leben erzählen und so durch Storytelling ihre persönlichen Stärken kommunizieren. Was immer noch viele überschätzen, ist die Aufmachung, das Design. Dabei überzeugt meiner Erfahrung nach der Inhalt und nicht die Verpackung von den echten Qualitäten.
Danke Euren Beitrag, die Menschen als bunt und vielseitig zu erkennen. Denn jeder kann etwas zum Gelingen beitragen!
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Christian,
vielen Dank für das nette Feedback und den Ausblick. In der Bewerbung mit Storytelling zu arbeiten, ist ja mal ein interessanter Ansatz.
Viele Grüße
Annika Lamer
Gabriele Brandhuber meint
Ein schöner Artikel, der mir aus dem Herzen spricht! Ich empfinde mich zwar als eher extrovertiert, trotzdem geht mir das laute Marketing-Gedöns auf Facebook und Instagram auf die Nerven. Ich will nicht die ganze Zeit von Werbung beschallt, mit künstlicher Verknappung unte Druck gesetzt werden. Ich mag meinen eigenen Weg gehen, und der konzentriert sich jetzt tatsächlich auf guten Content in Kombination mit SEO und meinem Engagement in Gruppen, wo ich wirklich das Gefühl habe, es gibt einen fruchtbaren Austausch und ein Miteinander. Leise und mit Tiefgang statt laut und oberflächlich, das mag ich. Liebe Grüße, Gabriele Brandhuber
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Frau Brandhuber,
vielen Dank für Ihre Einschätzung und für die wichtige Ergänzung: Natürlich ist leises Marketing nicht nur etwas für Introvertierte, sondern genauso auch für Extrovertierte. 🙂
Viel Erfolg weiterhin
und herzliche Grüße
Annika Lamer
Lena von Team introvertiert meint
Ich zähle mich eindeutig zu den introvertierten Menschen und finde es auch sehr wichtig, dass die Stärken der leisen Menschen mehr Anerkennung in der Gesellschaft finden müssen. Ich habe jahrelang versucht, mich den Erwartungen, extravertierter zu sein, anzupassen. Bin gescheitert und habe viel Energie dabei verloren. Jetzt konzentriere ich mich auf meine leisen Stärken und fühle mich viel wohler dabei. Darüber schreibe ich auch seit kurzem in einem eigenen Blog für Introvertierte – ich hoffe, dass noch mehr Intros ihre Stärken erkennen und danach leben!
Viele Grüße
Lena
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Lena,
wie schön zu lesen, wie diese Erkenntnis dein Leben verbessert hat. Ich wünsche dir viel Erfolg mit deinem Blog!
Viele liebe Grüße
Annika