Sport und Fitness ist mir wichtig – oder sind mir wichtig? Nicht immer ist die Frage nach dem Numerus des Verbs so leicht zu entscheiden. An dem Problem habe ich mir die Zähne ausgebissen, als ich für meine Weihnachtspost folgende Zeilen formulieren wollte:
Doch durch die Fenster
Dringt Weihnachtsmusik
Und heller Schein
„Dringt Weihnachtsmusik und heller Schein“? Es sind doch zwei Dinge, müsste es nicht „dringen“ heißen? Doch das schien mir mein Gedicht zu zerschießen. Grund genug, die Numerus-Frage für meinen Blog einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Eins und eins ist nicht immer zwei
Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Fällen im Deutschen, in denen das Verb im Singular steht, obwohl es sich auf zwei Substantive bezieht. Sprache ist eben mehr als Mathematik.
Der Duden benutzt in diesen Fragen oft die Formulierung „der Singular wird vorgezogen, er wird bevorzugt“. Das ist deskriptiv, beschreibt also, was die meisten Sprecher*innen vorziehen. Wir haben es demnach nicht mit Rechtschreibregeln zu tun („der Singular ist zu verwenden“), sondern mit Stilhinweisen. Das macht es nicht einfacher.
Schauen wir uns die Fälle einmal im Detail an. Ich stütze mich dabei vor allem auf einen Duden-Beitrag zum Sprachwissen. Ob der Singular in meinem Weihnachtsgedicht nun falsch war oder nicht, löse ich am Ende auf.
Fall 1: Satzkonstruktionen, die man als Ellipse begreifen kann
Zwei Substantive, Verb im Singular: Das geht, wenn Sie Ihren Satz als Ellipse begreifen, das Verb also in Gedanken ein zweites Mal wiederholen.
- Im Safe liegt der Schmuck, das Bargeld.
- Gedankliche Ergänzung: Im Safe liegt der Schmuck, liegt das Bargeld.
Das Verb sollte allerdings vorn stehen und die beiden Substantive sollten nicht durch eine Konjunktion (zum Beispiel „und“) getrennt werden. Sonst wählen Sie das Verb im Plural:
- Der Schmuck und das Bargeld liegen im Safe.
- Im Safe liegen der Schmuck und das Bargeld.
Fall 2: Ein Substantiv umfasst das andere
Umfasst eines Ihrer Substantive das andere inhaltlich mit, ist ebenfalls der Singular möglich:
- Der Baum hier und jeder andere Baum in meinem Garten trägt im Herbst viele Früchte.
Fall 3: Die Substantive werden als Einheit aufgefasst
Wenn zwei Substantive (meist ohne Artikel) inhaltlich eng miteinander verbunden sind, können Sie das Verb ebenfalls in den Singular setzen.
- Sport und Fitness ist mir wichtig.
- Mein Wunsch und Traum ist zum Greifen nah.
Auch „Schmuck und Bargeld“ ließe sich eventuell als eine solche Einheit auffassen. Die Artikel sollte man dann aber weglassen:
- Schmuck und Bargeld liegt im Safe.
Fall 4: Substantivierte Verben
Eine Einheit sieht der Duden insbesondere, wenn es sich bei den Begriffen um substantivierte Verben handelt. Es empfiehlt sich also zu schreiben:
- Stricken und Häkeln ist sehr beliebt.
- Tanzen und Lachen tut jedem gut.
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Fall 5: Das Verb leitet eine Aufzählung ein
Bei Aufzählungen können Sie ebenfalls den Singular verwenden:
- Benötigt wird: ein Eierkarton, eine Bastelschere, Klebstoff …
Fall 6: Jeder, kein, mancher
Einen Sonderfall haben wir auch, wenn beide Teile kein, jeder oder mancher enthalten:
- Jeder Kunde und jede Kundin möchte gut beraten werden.
- Kein Krümel und kein Staubkorn ist zu sehen.
- Auf dem Fest war auch manche*r Kleindarsteller*in und mancher Kostümfan zu finden.
Der Duden sagt, der Singular sei hier „die richtige Wahl“. Ist das schon normativ? Ich persönlich würde bei jeder auf jeden Fall den Singular verwenden; bei kein und mancher wäre ich schon laxer.
Fall 7: Nicht nur – sondern auch, sowohl – als auch
Bei Konstruktionen mit „nicht nur – sondern auch“ und „sowohl – als auch“ empfiehlt der Duden den Singular. „Empfiehlt“ heißt hier mal wieder: Ganz falsch ist der Plural nicht.
- Nicht nur das Risotto, sondern auch der Salat hat mir geschmeckt.
- Sowohl das Risotto als auch der Salat hat mir geschmeckt.
Und wenn eines der Substantive im Plural steht? Dann richtet sich das Verb nach dem Wort, das ihm näher steht:
- Sowohl das Risotto als auch die Salate haben mir geschmeckt.
- Sowohl die Salate als auch das Risotto hat mir geschmeckt.
Satz zwei klingt allerdings ganz schön komisch; ich würde Satz eins vorziehen.
Fall 8: Weder – noch
Bei „weder noch“ lässt Ihnen der Duden die Wahl, spricht also keine klare Empfehlung aus:
- Weder das Risotto noch der Salat hat mir geschmeckt.
- Weder das Risotto noch der Salat haben mir geschmeckt.
Fall 9: Singularische Mengenangaben
Wie sieht es hier aus?
- Mehr als die Hälfte der Besucher hat die Karte im Internet gekauft.
- Mehr als die Hälfte der Besucher haben die Karte im Internet gekauft.
- Ein Dutzend Rechtschreibfehler ist zu viel.
- Ein Dutzend Rechtschreibfehler sind zu viel.
Rein formal wäre der Singular korrekt, da das Subjekt des Satzes in der Einzahl steht: die Hälfte, ein Dutzend. Konstruiert man jedoch nach Sinn, würde man den Plural wählen: viele Besucher, zwölf Rechtschreibfehler.
Was sagt der Duden? Er empfiehlt den Singular. (Der Plural bleibt erlaubt.)
Weitere Beispiele für singularische Mengengaben sind: Anzahl, Mehrzahl, Reihe, Menge, Teil, Handvoll, Haufen, Fülle.
Zwei Einschränkungen würde ich machen. Auf Gruppe folgt eher der Singular, auf Menge der Plural:
- Eine Gruppe verärgerter Eltern hat einen Brandbrief geschrieben.
- Nicht: Eine Gruppe verärgerter Eltern haben einen Brandbrief geschrieben.
- Eine Menge Eltern können das verstehen.
- Nicht: Eine Menge Eltern kann das verstehen.
Wie sieht es jetzt mit meinem Weihnachtstext aus?
Nehmen wir uns noch mal meine Gedichtzeilen vor:
Doch durch die Fenster
Dringt Weihnachtsmusik
Und heller Schein
Ich kann hier meine Wahl des Singulars mit Fall 3 begründen, indem ich „Weihnachtsmusik und heller Schein“ als Einheit begreife. Dafür spricht, dass die Begriffe ohne Artikel stehen. Weil mir das allerdings etwas zu heikel war, habe ich umformuliert zu:
Dringen Weihnachtslieder
Dringt heller Schein
Letzten Endes ist es ja so: Ich mag den Singular begründen können („das ist halt eine Einheit“), mein*e Empfänger*in aber nicht unbedingt. Deshalb bin ich der Frage lieber aus dem Weg gegangen. Ein Dilemma, das Sie für sich entscheiden müssen.
Fazit: Setzen Sie (auch) auf Ihr Sprachgefühl
Die heutigen Beispiele zeigen mal wieder, dass Sprache sich nicht bis in die letzte Ecke normativ regeln lässt. Wenn beide Fassungen erlaubt sind, muss der/die Sprecher*in entscheiden. Hinzu kommt: Wie sehr der Singular vorzuziehen ist, unterscheidet sich von Fall zu Fall – und lässt sich nicht genau beziffern. Zu neunzig Prozent? Zu sechzig Prozent? Und über viele Fälle lässt sich streiten: Wann begreife ich etwas als Einheit, wann nicht? Ist das hier noch eine Ellipse oder nicht? Ganz schön schwierig.
Diese Beweglichkeit der Sprache ist aber auch eine Chance. Wie Sie einen Satz konstruieren, hängt immer auch von Ihrem Sprachgefühl ab, von Ihrem individuellen Ausdruck. Das macht die menschliche Kommunikation so bunt.
Lesen Sie auch:
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Drei Profi-Tipps, mit denen Sie komplizierte Sätze sofort leserfreundlicher machen
Elisabeth zenz meint
Vielen Dank für diesen tollen Artikel, der die vielen Aspekte übersichtlich und verständlich beleuchtet. Hab schon einen Bookmark gesetzt!
Bei Ihrem Weihnachtstext wäre ich beim Singular geblieben, denn in der geänderten Form hätte mich die Wortwiederholung gewurmt. 😉
Alles Liebe
Elisabeth Zenz
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Frau Zenz,
vielen Dank für das nette Feedback! Wortwiederholungen haben in einem Gedicht ja durchaus ihren eigenen Charme, deshalb hat es für mich gepasst. 🙃
Herzliche Grüße
Annika Lamer
Sandra meint
Hallo Annika,
darüber stolpere ich ständig! Schön, dass es jetzt einen Ort gibt, der Antworten bereithält. Ob ich’s mir gemerkt habe? Natürlich nicht. Aber ich weiß jetzt, wo ich schauen kann.
Vielen Dank dafür und (hoffentlich) bis zum nächsten Workshop!
Liebe Grüße Sandra
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Sandra,
eine hervorragende Strategie! 😎
Danke dir und bis bald,
liebe Grüße
Annika
Karin Denzler meint
Hallo Annika,
Vielen Dank für den tollen Beitrag ! Das sind ja echte Knacknüsse, die du da für uns gelöst hast 🙂
Ich freue mich immer sehr über deine unterhaltsamen und lehrreichen Newsletter!
Liebe Grüße
Karin
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Karin,
vielen Dank dafür! Knacknüsse, ein schönes Wort. 😊
Liebe Grüße
Annika
Sven meint
Sehr spannend, vielen Dank.
Ich freue mich, dass ich bei fast allen Beispielen intuitiv richtig gelegen habe. 😉
Dr. Annika Lamer meint
Top! 😀👍
Viele Grüße
Annika Lamer
Anna Avanesyan meint
Das ist ein Tisch und zwei Stühle.
Das sind ein Tisch und zwei Stühle. Sind die beide Sätze richtig?
LG
Anja
Werner Keller meint
Sehr interessant, weil diese „Problematik“ auch im Englischen (meine Landessprache) vorhanden ist. In den Fällen 4 und 7 muss ich allerdings die Duden-Empfehlung ablehnen und im Fall 8 ist die Verwendung des Plurals unsinnig.
Gisela meint
Super Beitrag, Danke! Vor dieser Fragestellung stand ich schon oft. Ich kann mir zwar nicht alles merken, den Blogartikel speichere ich mir daher ab. Herzliche Grüsse Gisela
Veronika meint
Vielen Dank für den interessanten Artikel!
Ich hirne an folgendem Beispiel herum:
Was du isst, wie du dich bewegst hat/haben einen großen Einfluss auf die Psyche.
Für mich tönt der Plural („haben“) hier komisch. Aber ich weiß nicht, ob es für den Singular gute Gründe und Argumente gibt. Ich würde am ehesten mit Fall 3 („Einheit“) argumentieren, allerdings handelt es sich in meinem Beispiel nicht um Substantive …
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Veronika,
danke für das Beispiel! Hier gehört auf jeden Fall der Singular hin. Solche Nebensatz-Konstruktionen werden nicht als zwei gewertet. Auch mit einem „und“ bliebe es beim Singular:
– Was du isst und wie du dich bewegst, hat einen großen Einfluss auf die Psyche.
Vielleicht wird es klarer, wenn man ein „das“ einsetzt:
– Was du isst, wie du dich bewegst, das hat einen großen Einfluss auf die Psyche.
Viele Grüße
Annika Lamer
Martin meint
Danke für den spannenden Artikel!
Im Schreibheft meines Sohnes (8) las ich gerade als Bildbeschreibung den Satz „Fred oder Susi angelt den Fisch“.
Auf dem Bild sieht man, dass nur eine Person angelt, das ‚oder’ also „entweder oder“ bedeutet. Trotzdem tendiere ich hier eher zu Plural… Ist beides richtig? Spielt es eine Rolle, ob die Subjekte logisch eine Singularität bilden? Wenn es explizit heißt „Entweder A oder B hat gewonnen“, würde ich auch zu Singular tendieren.
Ich bin gespannt auf deine Antwort!
Herzlichen Dank
Martin
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Martin,
in den meisten Fällen ist bei „oder“ der Singular richtig – auf jeden Fall immer dann, wenn man ein „entweder oder“ ergänzen könnte so wie in Ihrem Beispiel.
Möglich ist der Plural dann, wenn die Aussage tatsächlich auf beide Subjekte zutrifft:
„Ein Labrador oder ein Golden Retriever würden vom Temperament gut passen.“
Beide Rassen würden passen – nicht nur entweder die eine oder die andere. Deshalb kann man hier zum Plural greifen; der Singular wäre aber auch richtig.
Herzliche Grüße
Annika Lamer