Was hat Kryptonit mit Supermans Stimme zu tun? Hatte Goethe etwas gegen Schoßhündchen? Und was hat Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek mit einem russischen Fürsten gemeinsam?
Die Antworten gibt es im heutigen zweiten Teil meiner kleinen Reihe „Wendungen für Wissensdurstige“. Wie schon in Teil 1 schaue ich mir mit Ihnen allerlei spannende Ausdrücke und die Geschichten dahinter an. Dabei geht es wieder im Zickzack durch die Jahrhunderte, von vorchristlichen Überlieferungen bis hin zur Popkultur des 20. Jahrhunderts.
Heute dabei: des Pudels Kern, Pyrrhussieg, Potemkinsche Dörfer, Kryptonit, gordischer Knoten. Auch diesmal kann ich Ihnen nicht raten, die Begriffe unversehens in Ihre Blogartikel oder andere Content-Stücke einzubauen. In den meisten Zusammenhängen sind sie wohl zu elitär. Vielmehr geht es mir um Sprachliebe – um das, was unsere Sprache jenseits des Basiswortschatzes für uns bereithält. Wenn Ihnen das ähnlich viel Freude bereitet wie mir, verstehen wir uns.
Los geht es mit Goethes Pudel. Was genau hat es mit seinem Kern auf sich, und in welchem Zusammenhang lässt sich der Ausdruck benutzen?
Des Pudels Kern
Beispiel: Mit deiner Vermutung hast du des Pudels Kern getroffen.
Einfach ausgedrückt: Mit deiner Vermutung liegst du richtig.
Woher kommt der Ausdruck?
Wie schon bei der Gretchenfrage sind wir wieder bei Goethes Tragödie Faust I. Der Wissenschaftler Dr. Heinrich Faust hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: Seele gegen Wissen. Doch mit der Erkenntnis will es nicht so recht vorangehen, und reichlich frustriert begibt sich Faust mit seinem Diener auf einen Spaziergang.
Unterwegs begegnen die beiden einem schwarzen Pudel. Der verhält sich seltsam, jagt um sie herum. Kurzerhand nimmt Faust ihn mit nach Hause, um der Sache auf den Grund zu gehen. Da zeigt der Pudel seine wahre Gestalt: Es ist Mephisto. Erstaunt ruft Faust aus: „Das also war des Pudels Kern!“
Wenn Sie sich jetzt fragen, wie Goethe ausgerechnet auf einen Pudel kam: Er dachte dabei wohl an die gruseligen, großen schwarzen Hunde mit glühenden Augen, wie sie in vielen Sagen anzutreffen sind. Dämonisch genug, um den Teufel in sich zu tragen.
Heute würde man wohl eine andere Rasse wählen. Bei „des Pudels Kern“ denke ich jedenfalls erst mal an ein kleines weißes Schoßhündchen, nicht an einen furchteinflößenden Riesenhund.
Wann kann ich den Ausdruck benutzen?
Des Pudels Kern ist ein zentraler Aspekt eines Sachverhalts, der bisher verborgen geblieben ist. Die ursprünglich negative Konnotation – schließlich ist im harmlos wirkenden Hund niemand Geringeres als der Teufel verborgen – hat die Redewendung verloren. Tatsächlich beobachte ich eher eine positive Verwendung, nämlich im Sinne eines wertvollen Erkenntnisgewinns.
Vergleichen wir noch mal folgende zwei Sätze:
Mit deiner Vermutung hast du des Pudels Kern getroffen.
Mit deiner Vermutung hast du den Kern der Sache getroffen.
Was ist der Unterschied, also wozu braucht man den Pudel? Nun, der Pudel hat noch die Dimension, dass hier etwas Unerwartetes aufgedeckt wurde. Es ist nicht nur ein Kern, sondern ein überraschender Kern.
Phyrrhussieg
Beispiel: Dass du dich durchgesetzt hast, war wohl eher ein Pyrrhussieg.
Einfach ausgedrückt: Dass du dich durchgesetzt hast, wird dir noch teuer zu stehen kommen.
Woher kommt der Ausdruck?
Namenspatron für den Phyrrhussieg ist König Phyrrhus, ein ziemlich kriegshungriger Feldherr. Wir schreiben das 3. Jahrhundert v. Chr. Pyrrhus kommt gerade aus einer Schlacht gegen die Römer. Als ihm zum Sieg gratuliert wird, erwidert er: „Noch so ein Sieg, und wir sind verloren!“ Denn seine Armee hat in der Schlacht so große Verluste erlitten, dass sie über Jahre geschwächt sein wird.
Wann kann ich den Ausdruck benutzen?
Ein Pyrrhussieg ist ein vergifteter Erfolg: Die Verluste sind so groß, die Gesamtbilanz so schlecht, dass vom vermeintlichen Sieg nichts Positives mehr bleibt. Geben wir meinem Beispielsatz noch etwas mehr Kontext, dann wird es deutlich:
Dass du dich durchgesetzt hast, war wohl eher ein Pyrrhussieg. Sie kennt jetzt deine Schwachstelle und wird sie bei nächster Gelegenheit gegen dich verwenden.
Potemkinsche Dörfer
Beispiel: Was sie uns da präsentiert haben, waren Potemkinsche Dörfer.
Einfach ausgedrückt: Sie haben versucht, uns zu täuschen.
Woher kommt der Ausdruck?
Wir befinden uns im Jahr 1787. Katharina die Große reist auf Besichtigungstour durch Neurussland, begleitet von Fürst Potjomkin, Gouverneur Neurusslands und zufällig auch Liebhaber der Zarin. Sein Einfluss auf die Herrscherin gefällt nicht allen, und so erklärt sich wohl, wie es zu folgender Legende kommt: Die hübschen Häuserfronten auf Katharinas Reise, so lästert man, seien nichts als Attrappen gewesen, errichtet vom Hochstapler Potjomkin.
Halten lässt sich das nicht. Die Bauwerke, die Potjomkin in seiner Funktion als Gouverneur errichten ließ, waren in Wahrheit ganz und gar solide.
Ironie der Geschichte: Echte Potemkinsche Dörfer gab es im Lauf der Geschichte genug. Wikipedia nennt einige davon:
- So ließ die DDR-Regierung 1981 die Stadt Güstrow in ein Potemkinsches Dorf verwandeln. Anlass war ein Staatsbesuch von Helmut Schmidt mit Abstecher auf den Güstrower Weihnachtsmarkt. Um eine größtmögliche Advents-Idylle vorzutäuschen, wurden die echten Bewohner*innen in einem Bannkreis ferngehalten und durch schauspielernde Stasi-Mitarbeiter*innen ersetzt.
- 2013 sorgte sich die britische Regierung beim G-8-Gipfel im nordirischen Enniskillen um die Außenwirkung der vielen leerstehenden Geschäfte. Die Lösung: Fototapeten, die ihren Betrieb vortäuschten.
- 2020 soll der damalige Wirecard-Vorstand Jan Marsalek falsche Bankfilialen errichtet haben – inklusive Kulissenbau und Schauspieler*innen.
Treffender könnte man heute also von Güstrower Weihnachtsmärkten oder Marsalek’schen Bankfilialen sprechen. (Ich scherze.)
Wann kann ich den Ausdruck benutzen?
Potemkinsche Dörfer sind Trugbilder, Blendwerk. Es wird etwas besonders Schönes vorgespielt, das die nicht so schöne Wahrheit verdecken soll. Noch etwas Kontext für unseren Beispielsatz:
Was sie uns da präsentiert haben, waren Potemkinsche Dörfer. Die teuren Essenseinladungen, das ganze Programm und Brimborium: In Wahrheit steht die Firma kurz vor der Insolvenz.
Kryptonit
Beispiel: Seine Spielernatur ist sein Kryptonit.
Einfach ausgedrückt: Seine Spielernatur wird ihn noch ruinieren.
Woher kommt der Ausdruck?
Kryptonit ist ein fiktives Mineral aus dem Universum des US-amerikanischen Comic-Verlages DC Comics. Seine große Bekanntheit hat es den Superman-Comics und -Filmen zu verdanken.
Superman kann ja fast alles, aber sobald er Kryptonit ausgesetzt wird, ist Schluss mit lustig. Das grüne Mineral, das ursprünglich von seinem zerstörten Heimatplaneten Krypton stammt, hat auf ihn den Effekt eines radioaktiven Giftes. Es schwächt ihn und wirkt nach gewisser Zeit tödlich.
Seine erste Erwähnung findet das Kryptonit 1945 in der Superman-Radio-Show. Der Sprecher von Superman muss krankheitsbedingt durch einen anderen Sprecher ersetzt werden. Um die neue Stimme zu erklären, erfindet man kurzerhand das Kryptonit. Die Idee, dem ach so perfekten Superman eine Schwachstelle mitzugeben, ist so gut, dass sie bleibt.
Wann kann ich den Ausdruck benutzen?
Ähnlich wie die Achillesferse – nur in einer modernen Variante – bezeichnet Kryptonit den wunden Punkt eines Menschen. Nach meinen Recherchen wird es häufig im Beziehungsjargon benutzt, um jemanden einer „toxischen“ Wirkung zu bezichtigen: „Karl-Peter ist mein Kryptonit.“ Das ist mir etwas zu viel Drama. Heben Sie sich den Ausdruck lieber für unbelebte Sachverhalte auf:
Seine Spielernatur ist sein Kryptonit. Er riskiert noch Kopf und Kragen, nur weil ihn die Herausforderung kickt.
Geht es Ihnen wie mir, und Sie sehen vor Ihrem inneren Auge sofort ein grünes Mineral aufleuchten? Ich denke, da bin ich durch die Superman-Filme mit Christopher Reeve geprägt. Und da sind wir auch genau bei dem Grund, warum sich so eine Metapher lohnt: Alles, was Bilder im Kopf weckt, ist toll.
Gordischer Knoten
Beispiel: Ob sich dieser gordische Knoten noch durchschlagen lässt, ist offen.
Einfach ausgedrückt: Ob sich das Problem noch lösen lässt, ist offen.
Woher kommt der Ausdruck?
Der gordische Knoten geht auf eine Legende aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. zurück. Der Bauer Gordius sitzt nichtsahnend auf seinem Ochsenkarren, als ihn das Volk der Phrygier zum König erklärt. Schuld daran ist ein Orakel. Es hat den Phrygiern aufgegeben, denjenigen zum König zu wählen, der ihnen zuerst auf einem Wagen begegnen würde.
Weil ihm sein Ochsenkarren so ein Glück gebracht hat, weiht der frisch gekürte König Gordius ihn Jupiter (oder Zeus, je nach Version). Der Knoten, der Joch und Deichsel verbindet, inspiriert ein Orakel zu einer weiteren Prophezeiung: Derjenige, der den Knoten löse, werde eines Tages Asien regieren.
Doch der Gordische Knoten ist so fest geknüpft, dass das niemandem gelingt. Bis, ja bis Alexander der Große kommt und den Knoten kurzerhand mit seinem Schwert durchschlägt. Der Rest ist Geschichte – Alexander der Große tritt einen Siegeszug durch Asien an.
[Haben Sie bemerkt, dass ich im letzten Absatz zur Großschreibung von „Gordisch“ gewechselt bin? Spricht man von DEM Gordischen Knoten, den Gordius geknüpft hat, schreibt man das Adjektiv groß. Der gordische Knoten in übertragener Bedeutung schreibt sich hingegen klein.]
Wann kann ich den Ausdruck benutzen?
Ähnlich wie das Ei des Kolumbus bezeichnet der gordische Knoten ein scheinbar unlösbares Problem oder Hindernis. Der Lösungsweg ist jedoch unterschiedlich: Während Kolumbus das Problem durch Schläue löst, wählt Alexander der Große den brachialen Weg.
Meist wird der gordische Knoten – wie das Ei des Kolumbus – zu einer Problembeschreibung benutzt, bei der die Lösung fern ist. Statt durchschlagen wird oft auch das Verb lösen genommen. Zwar lässt sich der gordische Knoten nicht lösen (sondern nur durchschlagen). Wenn man aber den Versuch beschreibt, geht auch lösen.
Vergleichen wir den Ausdruck noch mal mit dem Ei des Kolumbus:
Die Parteien blockieren sich gegenseitig. Ob sich dieser gordische Knoten noch durchschlagen lässt, ist offen.
Die Parteien blockieren sich gegenseitig. Ob sich hier noch das Ei des Kolumbus finden lässt, ist offen.
Was ist der Unterschied? Das Ei des Kolumbus wäre eher eine geniale Lösung, die alle zufriedenstellt. Wenn hingegen ein gordischer Knoten durchschlagen wird, wird das Problem vielleicht einfach nur ad acta gelegt. Konkret in meinem Beispiel:
Gordischer Knoten: Die Parteien geben ihre Blockade auf.
Ei des Kolumbus: Die Parteien finden einen Kompromiss, der alle zufriedenstellt.
Fazit: Von der Kraft der Geschichten
So unterschiedlich diese Ausdrücke auch sind, eins ist ihnen gemeinsam: Sie alle erzählen eine Geschichte. Sie tragen einen gewissen Storytelling-Faktor in sich, der jedoch nicht ausformuliert ist, sondern beim Lesen mitgedacht werden muss. Und genau das macht bei mir im Kopf so sehr Bling-bling, wenn ich in einem Text auf solche Wörter stoße. Geht es Ihnen auch so? Lassen Sie mir gerne einen Kommentar da.
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Ernst Lomminger meint
Guten Tag Frau Lamer,
danke für die Erklärungen zu den bekannten oder auch weniger bekannten Redewendungen.
Eine grammatische Rückfrage habe ich noch. Beim Phyrrhussieg heißt es: „Dass du dich durchgesetzt hast, wird dir noch teuer zu stehen kommen“. Mir war bisher nur die Wendung „wird dich teuer zu stehen kommen“ geläufig. Ist der Akkusativ falsch oder geht beides?
Dr. Annika Lamer meint
Hallo Herr Lomminger,
das geht beides – Akkusativ oder Dativ.
Viele Grüße
Annika Lamer
Ruth Lippmann meint
Hallo, Frau Dr. Lamer!
Was hat es mit dem Hasen im Pfeffer auf sich?
Danke für Ihre tollen Ausführungen, die ich seit Jahren „verschlinge“.
Herzliche Grüße,
Ruth Lippmann
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Frau Lippmann,
vielen Dank für das nette Feedback! Für die jetzige Reihe sammle ich keine alltagssprachlichen Redewendungen (davon gäbe es ja noch unendlich viele), sondern besonders „gelehrte“ Begriffe, die zudem auf ein bestimmtes Ereignis zurückgehen, das sich nacherzählen lässt. Deshalb würde der Hase im Pfeffer nicht reinpassen. Vielleicht für eine spätere Reihe!
Herzliche Grüße
Annika Lamer